Naturmed Nlog - Therapeuten Fachbuchblog

Wenn aus chronischen Schmerzen ein massives akutes Problem wird – und wie die TCM beides auflösen kann.

Eine Fallgeschichte von Gabriele Fischer-Humbert

„Tja – Stress habe ich eigentlich immer,“ aus dem Munde der Assistenzärztin und Mutter von drei Kindern klingt das wenig erstaunlich. Die 39-jährige Patientin hat ein straffes Tagespensum – und sie hat chronische Rückenschmerzen, seit mehr als 10 Jahren. „Passiert zusätzlich etwas Belastendes, dann werden die Schmerzen stärker. Ganz weg sind sie nie. Aber im letzten August ging dann plötzlich gar nichts mehr,“ erklärt die Ärztin.

Selbstbehandlung

Üblicherweise behandelte sich die Patientin selbst: „Schmerzmittel und Yoga und wenn es ganz schlimm ist, dann einen Tag im Bett bleiben,“ schildert sie. Keine befriedigende Situation für die Assistenzärztin: „aber auszuhalten – mehr oder weniger. Und für einen tiefergehenden Therapieansatz hatte ich ja keine Zeit. Besser gesagt, ich dachte, diese Zeit kann ich mir nicht nehmen.“

Arbeitsunfähig

Eine längere Auszeit musste sie sich dann allerdings gezwungenermaßen nehmen. Ihre Schmerzsymptomatik hatte sich, ausgerechnet im Urlaub, plötzlich so massiv verschlimmert, dass sie ihre Arbeit im Krankenhaus nicht mehr aufnehmen konnte.

Sie litt unter anhaltenden, starken, stechenden und ziehenden Schmerzen im oberen Rücken. Hinzu kam eine große Kraftlosigkeit mit Ameisenlaufen und leichter Taubheit im rechten Arm. Die durchgeführte umfangreiche Diagnostik verhalf nicht zu klaren Therapieansätzen. Das MRT zeigte einen leichten Bandscheibenvorfall im Halswirbelbereich. Eine Operation wurde nicht unmittelbar empfohlen, erst bei einer weiteren Verschlechterung der neurologischen Ausfälle im rechten Arm. Behandelt wurde mit Schmerzmedikation und Kortikoiden. Die Beschwerden verbesserten sich kaum. An ihren Arbeitsplatz konnte die Assistenzärztin nicht zurückkehren.

Ein anderer Zugang durch TCM

Bei einer Behandlung mit Chinesischer Medizin hatte die Patientin bereits gute Erfahrungen gemacht: Vor fast 10 Jahren, wegen krampfartiger Schmerzen im Oberbauch, bei ihrer 2. Schwangerschaft. Deswegen suchte sie meine Praxis nun erneut auf. In der Anamnese zeigen sich gleich mehrere Pathomechanismen. Sie spielten seit vielen Jahren so ineinander, dass sich das chronische Schmerzsyndrom nun akut so massiv zugespitzt hatte. Was war passiert?

Anhaltende Mangelversorgung

Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: „Zu wenig Nachschub“. Die fortbestehend hohe Belastung durch die Arbeit im Krankenhaus und in der Familie hat zu einer anhaltenden Überlastung und daraus resultierenden Mangelversorgung des Organismus geführt.

Nach den Auffassungen der TCM kann dies aber nicht nur dazu führen, dass die Muskelkraft abnimmt, oder man sich geschwächt fühlt. Sondern, die Mangelversorgung von Gewebe kann ab einem bestimmten Grad auch Schmerzsyndrome auslösen. Das kann dann geschehen, wenn in einem bestimmten Bereich die Mikrozirkulation zusammenbricht.1 Um eine solche Art von „Entgleisung“ besser zu verstehen, ist es hilfreich, wenn man sich kurz vergegenwärtigt, welche verschiedenen Prozesse bei der Versorgung und Ernährung unseres Körpers und seiner Gewebsstrukturen natürlicherweise ineinandergreifen.

Stoffwechsel aus „chinesischer“ Perspektive

In der TCM betrachtet man hierfür das Zusammenspiel – etwas vereinfacht – von einerseits Substanzen, wie Blut und Körperflüssigkeiten mit andererseits der Energie, die alle Zellen belebt, dem „Qi“. Beim „Qi“ werden noch einmal (im Wesentlichen)2 zwei Formen unterschieden: Zum einen das „Zong-Qi“ das man gut als Kraft und Tonus beschreiben kann. Und zum anderen das „Wei-Qi“, unter dem man die Wärmeenergie des Körpers versteht. Substanzen und Qi treten immer in Verbindung miteinander auf, sie interagieren: Das Blut und die Körperflüssigkeiten werden durch das Wei-Qi gewärmt und das Zong-Qi bewegt. Was ergibt sich daraus für die physiologische Ernährung unseres Körpergewebes?

Gesundes Gewebe braucht Versorgung

Nach den Auffassungen der Chinesischen Medizin sind drei Voraussetzungen ganz wesentlich damit die verschiedenen Gewebe gesund und leistungsfähig sind und bleiben:

  1. Für ihre Ernährung muss ausreichend Substanz vorhanden sein. Es muss genug Blut und Flüssigkeiten bereitgestellt sein.
  2. Diese Substanzen müssen auch überall dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden: Der Stoffaustausch erfordert offene Transportwege, sie dürfen also nicht verstopft sein. Und es muss ausreichend Kraft hierfür vorhanden sein, das Zong-Qi. Es bewegt alle Stoffe im Körper.
  3. Der Nachschub an benötigten Substanzen und Stoffen muss ständig aufrechterhalten werden. Wenn der Körper aus den aufgenommenen Lebensmitteln körpereigene Stoffe herstellt, nennen wir das Stoffwechsel. Die Nahrung wird umgewandelt, in beispielsweise die Bestandteile, die für das Blut wichtig sind. Dieser Umwandlungsprozess benötigt eine besondere „Wärmeenergie“, das Wei-Qi.

Kraft und Wärme unseres Körpers

„Zong-Qi“ – die Kraft

  • Es sorgt für das Öffnen und Schließen der Poren in der Haut und reguliert so das Schwitzen und unseren Schutz der Körperoberfläche beispielsweise gegen Kälte oder Wind.
  • Es bewegt alle Stoffe im Körper: Blut, Flüssigkeiten, Verdauungsbrei, Stuhl, Menstruationsblut.
  • Es reguliert die kurzen Rhythmen, wie die der Atmung oder der Peristaltik im Darm.

„Wei-Qi“ – die Wärme

  • Es wärmt den gesamten Körper.
  • Es ist für alle Stoffwechselprozesse verantwortlich, wie der Umwandlungen von Nahrung in die benötigten körpereigenen Substanzen: Damit etwa aus der Petersilie Bestandteile für das Blut produziert werden können.
  • Es steuert Wachstums- und Reifeprozesse, z.B. den Eintritt in die Pubertät.
  • Es reguliert die langen Rhythmen, wie den Tag/Nacht-Rhythmus.

Blockaden führen zu Schmerzen

Wenn nun über lange Zeit die Versorgung des Gewebes vermindert wird – weil 1. nicht genug Substanzen da sind, sie 2. nicht dorthin transportiert werden, wo sie gebraucht werden, oder 3. der Nachschub zu gering ausfällt – dann kommt es nicht nur zu einer Leere oder Schwäche in einem bestimmten Gewebe. Die Folge ist, dass die Mikrozirkulation in den feinsten Kanälen und in den feinsten Blutgefäßen eingeschränkt und blockiert wird. Je nachdem wie stark die Blockade durch die einzelnen Faktoren ausfällt, kann sie sich langsam, auch über viele Jahre hinweg, immer mehr aufbauen, oder sich auch plötzlich zuspitzen. Diese Blockade spüren wir als Schmerzen.

Zwei Uniabschlüsse und Highperformerin

Für die Einschätzung der physischen und psychischen Konstitution der Assistenzärztin sind biographische Eckdaten interessant: Nach dem erfolgreichen Chemiestudium und der Festanstellung in einem internationalen Unternehmen orientierte sich die junge Frau beruflich um. Mit ihren damals 26 Jahren begann sie ihr Medizinstudium und erfüllte sich ihren lange gehegten Berufswunsch Ärztin zu werden. Mit zuletzt vier Kindern absolvierte sie auch ihr zweites Studium erfolgreich und befindet sich nun am Ende ihrer Facharztausbildung. Bemessen an den Arbeitsstunden für Studium, Beruf und ihre Familie kann sie sicherlich als Highperformerin angesehen werden. Gesundheitlich ging es ihr – von den Schmerzen im oberen Rücken abgesehen – immer sehr gut.

Detaillierte TCM-Anamnese

Die Patientin verfügte kontinuierlich über ein hohes Energielevel, ernährte sich gesund, machte Yoga, Appetit und Verdauung waren unauffällig. Sie konnte gut schlafen. Ihr Zyklus war regelmäßig und beschwerdefrei, allerdings verminderte sich die Blutmenge langsam aber stetig. Die junge Frau war mit sich und ihrem Lebensplan im Reinen.

Zu einem Einschnitt kam es durch ihre Anstellung als Assistenzärztin in einem chronisch unterbesetzten Ärzteteam. Um dem Arbeitspensum gerecht zu werden – neben Nacht-, Wochenenddiensten und dem Einspringen für erkrankte Kolleginnen und Kollegen – häufte sie täglich Überstunden an. Abends brauchte sie plötzlich „ein Glas Rotwein zum Runterkommen“ und für Sport war keine Zeit mehr. Nach mehr als 8 Monaten dieser Phase freute sie sich sehr auf ihren Familienurlaub.

Ausgerechnet hier geschah es: Kalter Zugluft ausgesetzt verhärtete und verspannte sich ihr oberer Rücken zuerst von einem Moment auf den nächsten massiv. Dann bekam sie sehr starke ziehende und stechende Schmerzen. Auf einer Schmerzskala von 1 – 10 als dem stärksten Schmerz nennt die Assistenzärztin 7 – 8. Dazu kommen die Taubheitsgefühle und die große Kraftlosigkeit im rechten Arm. Schmerzmittel brachten kaum Erleichterung. Die Schmerzen hielten Tag und Nacht an und verschlechterten sich zunehmend nachts.

Ansatzpunkte für die TCM-Therapie

Aus der Symptomatik und der Pathogenese lassen sich wesentliche Aspekte für das Therapieprinzip ableiten: Die Versorgung des betroffenen Gewebes am oberen Rücken mit Qi und Blut muss wieder hergestellt werden. Dafür sind Mittel auszuwählen, die das Zong-Qi unterstützen. Zusätzlich sind Kräuter wichtig, die das Blut aufbauen. Um die eingetretene Blockade aufzulösen ist es zudem wichtig, dass sich das Blut und das Qi wieder ausreichend und physiologisch bewegen. Wegen des Vorliegens von chronischen, wenn auch etwas leichteren Schmerzen, kann man davon ausgehen, dass es bereits zum Auftreten von Blutstagnation gekommen ist. Daraus ergibt sich, dass auch die Blutstase aufgelöst und ausgeleitet werden muss. Auch die differentialdiagnostischen Zeichen stechende Schmerzen, die sich nachts noch verschlechtern, deuten darauf hin, dass Blutstase bereits zu einem zentralen Problem geworden ist.

  • Blutiges Schröpfen
  • Chinesische Arzneikräuter
    Für die Zusammenstellung der ersten Kräuterrezeptur ergeben sich damit folgende Arzneigruppen:
    Tonisieren des Qi (Huang Qi, Astragali Rx; Zhi Gan Cao, Glyzyrrhizae Rx Praep. Cum Melle),
    Tonisieren des Blutes (Dang Gui, Anglicae Sinensis Rx; Bai Shao, Paeoniae Rx Alba),
    Bewegen des Qi (Zhi Qiao, Aurantii Fr; Chuan Xiong, Chuanxiong Rh)
    Befeuchten zum Durchgängigmachen der kleinsten Gefäße, der Luo-Gefäße (Sheng Di Huang, Rhemanniae Rx),
    Blut bewegen und Blutstase Ausleiten (Yan Hu Suo, Corydalis Rh; Tao Ren, Persicae Sm; Hong Hua, Carthami Fl; Chuan Niu Xi, Cyathulae Rx).
    Muskulatur entspannen: Zusätzlich von therapeutischem Nutzen ist die gemeinsame Gabe von Bai Shao und Zhi Can Cao, die verhärtete und verspannte Muskulatur erweichen.

Verbesserungen beginnen

Die Symptomatik verändert sich. Nach der ersten Woche der Einnahme der Arzneikräuter haben sich die Schmerzen etwas vermindert, bestehen aber auch noch in der Nacht fort. Das Taubheitsgefühl geht etwas zurück und die Patientin hat ein wenig mehr Kraft im rechten Arm.

Die Folgerezeptur wird deswegen etwas verändert
Drei Kräuter werden durch zwei andere Arzneikräuter ersetzt: Zhi Qiao (Aurantii Fr), Chuan Xiong (Chuanxiong Rh) und Chuan Niu Xi (Cyathulae Rx) werden entfernt.

Zhi Qiao und Chuan Xiong bewegen das Qi – wenn damit die Schmerzen in der Nacht fortdauern, bedeutet das, dass das Blut noch mehr bewegt werden muss.

Deswegen werden Jiang Huang (Curcumae Longae Rh) und Dang Gui Wei (Angelica Sinensis Extremitas Radicis) hinzugefügt. Beide akzentuieren nochmals den Aspekt des Blutbewegens. Wobei Jiang Huang zusätzlich ein Botenmittel für den Bereich der Schulter am Oberkörper ist und Chuan Niu Xi in der Rezeptur ersetzt. Dang Gui Wei kann besonders gut die Luo-, also die kleinsten Netzgefäße durchgängig machen. Die Dosierung von Huang Qi wurde von 6 auf 9 Gramm leicht erhöht.

Auch diese Rezeptur wird als Granulat verordnet, für den Zeitraum von knapp zwei Wochen, wieder in der Dosierung von 3 x 2 Gramm.

Die Symptome gehen zurück

Nach weiteren 10 Tagen der Einnahme haben sich erneut Verbesserungen eingestellt:

Fast beschwerdefrei

Als sich die Patientin nach 12 Tagen wieder vorstellt, hat sie keine Schmerzen mehr. Die Taubheitsgefühle sind nicht mehr aufgetreten. Sie fühlt sich wieder kraftvoll und energetisch. Nur bei Kraft und Ausdauer in ihrem rechten Arm spürt sie noch einen leichten Unterschied zu ihrem linken Arm. Sie fühlt sich aber dadurch nicht eingeschränkt und ist auch beruflich wieder voll einsatzfähig. Inzwischen sind mehr als sieben Monate vergangen und die Schmerzfreiheit hält an.

Resümee

Durch die TCM-Anamnese und die Behandlung mit dem Blutigen Schröpfen und den Chinesischen Arzneikräutern, über einen Zeitraum von fünf Wochen, konnten sowohl die massiven akuten Schmerzen als auch die schon seit mehr als zehn Jahren bestehenden chronischen Schmerzen erfolgreich auskuriert werden. Die Ursachen und die Symptome des Schmerzsyndroms standen im Zentrum des Therapiekonzepts.

TCM-Therapie und Lebensführung

Damit diese Beschwerdefreiheit allerdings auch von Dauer sein kann, bekam die die 39-jährige Patientin zusätzlich den dringenden Rat ihre Lebensführung etwas anders auszurichten. Ihre eigenen physischen und psychischen Bedürfnisse muss sie künftig mehr berücksichtigen. Denn, ohne, dass sie – trotz Beruf und Familie – noch ausreichend Zeit für ihren Ausgleich durch Bewegung, Sport und Pausen einplant, wird sie ihren intensiven Alltag auch als Highperformerin langfristig nicht gesund aufrechterhalten können.

Den vollständigen ausführlichen Artikel finden Sie in dem aktuellen Fachbeitrag in der NATURHEILPRAXIS 7/2024.